Musik ist auch ein Vorreiter der Wirklichkeit, und dem Schrecken etwa des 1.Weltkriegs war ein musikalisches Erschrecken vorausgeeilt, etwa in Arnold Schönbergs Bruch mit der Tonalität im frühen Expressionismus: „…Der Mond ist tückisch…weil er blutleer ist, malt er rotes Blut…“ zit.aus „Erwartung“, 1909. Diese Fakten sind ja bekannt und haben schließlich große Teile der Musikgeschichte des gerade beginnenden 20.Jahrhunderts bestimmt – ein Erschrecken, das im Nachhall des 2.Weltkriegs nochmals groß aufleuchtete – einerseits in einer Wiederkehr des Expressionismus, vor allem aber in der totalen Ent-Emotionalisierung der Musik durch eine nur mehr quantitative und strukturalistische Deutung des Tonraums, mit der Tendenz zu einer punktuellen Musik, vor allem bei dem frühen Stockhausen und bei Boulez. Dieser Rückzug der komponierten „Kunst-Musik“ auf eine intellektuelle und materialistisch-puristische Deutung von Klang beförderte sie in eine gesellschaftliche Nische, wobei sie sich mit dem Aufkommen der Pop-Kultur quasi als ein geistiges Gegenbild erst recht in immer speziellere Randbereiche zurückzog.
Aber zur Sache: Warum treffen Schuberts Winterreise oder „Fool on the Hill“ (Lennon/McCartney) ins Herz des Hörers, Boulez’ „Structures“ oder „Cummings ist der Dichter“ nur in die speziellen Herzen, die sich als von ihrem Intellekt emotional gereinigt anfühlen und die eine strukturelle Erleuchtung als eigentliche Sinngebung ansehen. Was eigentlich, im Gegensatz dazu, gibt „Musik“ den Schlüssel, in die intimsten Kammern menschlichen Empfindens einzudringen, sich als „jenseitig“, als „erhaben“, als „melancholisch“ oder einfach als „schön“ zu gebärden, nicht im modern verfremdeten kathartischen und pädagogischen Sinne, sondern ganz direkt und unmittelbar, hier vielleicht appollinisch, dort auch im ganz dionysischen Sinne emotional überwältigend?
Musik ist Schwingung, und die Frage, was Musik ist, die sich in der Wirklichkeit manifestiert, erlaubt hier einen kleinen Salto – denn es gibt ja Erfahrungsmodelle, was passiert, wenn sich „Schwingung“ manifestiert. So eine Manifestation von Schwingung findet sich z.B. im Welle/Partikel-Dualismus, dann im Atommodell und schließlich im Periodensystem, das sich quantitativ schön perlenmäßig aufge“reiht“ darbietet, als wäre der „Fall“ der Schwingung in die „Wirklichkeit“ eine Auf“reih“ung von 1 bis 118 (nach heutigem Stand), gerechnet in Plus-Ladungen bzw. Protonen.
Schön sinnvoll und abzählbar stellt sich so auf den ersten Blick „Materie“ dar, aber der Abzähl-Schein trügt, wird doch, wie sich diese 118 Elemente zueinander verhalten, von ganz anderen Gesetzen bestimmt, die gar nichts mit dem Abzähl-Prinzip (addiere 1 und du hast das neue Element) zu tun haben.
Nicht anders in „Musik“ -- aber Tonhöhen quantifizieren sich nicht automatisch wie die sich aufreihenden Elemente des Periodensystems. Erst „Markierungen“, anders gesagt, Intervalle, geben ein quantifizierbares System, wenn sie stimmig (z.B. durch Quintschritte) aufgebaut sind, oder eben zumindest den Schein eines Systems, wenn sie willkürlich (z.B. durch 12 gleiche Klein-Sekund-Abstände) aufgebaut sind. Wiederkehrende Schwingungen (wie z.B. die Oktave) geben dabei stets objektive Einschnitte in Skalenbildungen... aber das ist im Periodensystem ja auch der Fall durch eine von den Elektronenhüllen bestimmte Gruppenbildung (z.B. Fluor, Chlor, Brom etc.) von Elementen,die aufgrund ihrer Ladung bei der Bildung von Molekülen identisch agieren (musikalisch formuliert wäre Chlor die Oktave von Fluor, mit entsprechend chemisch identischem Verhalten). Es macht zwar einen Unterschied, in einem „Akkord“ einen Ton oktavzuversetzen -- der Tonvorrat des Akkords aber bleibt gleich. Erst ein Austausch mit einem Ton daneben Abweichung (z.B. kl.None) würde alles verändern. In der Chemie ist’s ähnlich, wenn man z.B. ein Element durch seinen Nachbarn ersetzt und plötzlich wird Blausäure frei...
Bieten sich also die schön aufgereihten Tastaturen chemischer Elemente oder musikalischer Tonfolgen zwar noch so glänzend, noch so schön skaliert oder wertfrei ausgebreitet dar, so zeigen doch höchst differenzierte Gesetzmäßigkeiten interner Schwingung, Resonanz oder Abstoßung ein ganz anderes Bild, das einer rein äußerlichen Quantifizierung oder Reihenbildung Hohn spricht. Und hier liegt, diffizil formuliert, jenes grundlegende Mißverständnis, das -- im Vor- oder Nachschrecken der Weltkriege -- Musikgeschichte machen konnte, ästhetisch zunächst vermummt in der zerschlissenen Kleidung des Expressionismus, dann aber im Laufe des Jahrhunderts immer mehr mutiert zu einem nurmehr moralisierenden, kritisch-aufklärerischen Gestus.
Damit klärt sich die Fragestellung, die nicht verkürzt oder banalisiert werden sollte zu „tonal gegen atonal“. Vielmehr geht es um Resonanz -, Wechselwirkungs- und Bindungsprinzipien, die im Filigran musikalischer Schwingungen ebenso wirksam sind wie innerhalb der komplexen Verhaltensweisen der Atome im großen Zoo der organischen und anorganischen Chemie, in dem erst die diffizile Beobachtung der Elektronenhüllen das Verhalten der jeweils entstehende Moleküle erklären kann.
Das beschreibt präzise die Ursache, warum ein „Ton“ niemals nur musikalisches „Material“ sein kann und niemals ein Gegenstand sein kann, der als solcher z.B. Teil zwölf gleichberechtigter Töne sein könnte. Jeder auf quantifizierbaren, numerisch aufgelisteten oder abgezählten Strukturen beruhende Ansatz musikalischen Handelns mißachtet diese spezifischen Eigenschaften von Schwingung, die sich eben nicht wie Materie gewordene Masse-Punkte ordnen und handhaben lässt... nicht anders als würde ein Chemiker die puren Atom-Kerne (1 - 118) auflisten, ohne zu ahnen, dass deren eigentliches Verhalten von den keineswegs mehr nur materiell greifbaren Ladungskräften der Atomhüllen bestimmt ist.
Nocheinmal anders gesagt: die physikalische Problematik zwischen Welle und Partikel findet auch im Musikalischen ihre Entsprechung! Denn Musik ist immer Welle, immer Schwingung, und niemals Partikel. Die Entwicklung der abendländischen Musik hat allerdings durch zwei Faktoren dazu beigetragen, Musik so zu behandeln, als wäre sie Partikel bzw. Materie -- zum einen durch die Notenschrift, die einen Punkt setzt, wo es eigentlich um eine Welle geht, zum anderen durch die Temperierung von Skalen. Der im Sinne einer Konfrontation von Tonarten und Harmonien sinnvolle Gedanke des „Wohl-Temperierten“ hat aber quasi nebenbei die Illusion erzeugt, es gäbe 12 Töne. Wenn man diese nun aus ihrem Schwingungs-Kontext löst, werden sie zu Punkten, zu „Partikeln“, zu „Material“ -- also zu etwas, das dem Phänomen von „Materie“ näher ist als dem von „Schwingung“. Der vermeintliche Emanzipationsprozess (die „Befreiung“ der separaten Tonhöhe von ihrem harmonischen Kontext) ist in Wirklichkeit ein Übergang von der Wellenform in eine Partikelform (jedenfalls in der Handhabung des Komponierenden), auch wenn jedes Partikel ja eigentlich noch „Welle“ ist und nicht wirklich „Materie“. Damit wird das Paradox deutlich, das sich in der jüngeren Musikgeschichte Bahn gebrochen hat -- isolierte Wellen wurden plötzlich behandelt, als wären es materielle Partikel. Und damit wird etwas Grundlegendes durchschnitten, mit dem sich „Schwingung“ direkt, intuitiv und ihrem Wesen (als Schwingung) entsprechend mitteilen kann. Was eigentlich Schwingung ist, nur noch in der verzerrten Maske des Materiellen erfahrbar, im Gefängnis eines für „Schwingung“ sachfremden Aggregatzustandes.