1978, bei seinen ersten Aufführungen mit
dem ensemble 13 und Manfred Reichert wirkte die 16minütige Chaconne für 10
Instrumente in mancher Hinsicht merkwürdig auf Publikum und Kritiker. Beifall
und Stille, aber auch (wie in Darmstädter Sommerkursen 1978) lang anhaltende
wütende Buh-Reaktionen standen im Wechsel. Nur auf den ersten Blick aber waren
es die schönen Harmonien, die provozierten und extrem aus dem „aktuellen
Materialstand“ der Zeit herausgefallen schienen.
39 Jahre nach der Komposition lohnt sich ein analytischer Blick, der erst jetzt erkennbare Wirkungsvektoren ausgräbt. „Naiv“, keineswegs „sentimentalisch“ (um die Begriffe aus Friedrich Schillers bekanntem Essay zu gebrauchen…) war die Musik damals für eine „Schubertiade“ komponiert worden, keine Schubert-Zitate, kein intellektueller Diskurs von Musikgeschichte, keine Stellungnahmen (außer einer kleinen Hommage an Gershwin mit dem Klarinetten-Glissando in Takt 20 -- aus dem Beginn der „Rhapsodie in Blue“ geklaut -- sowie einer Verbeugung vor „Lontano“ meines Lehrers Ligeti im Bass-Absturz Takt 73).
Warum wirkt der Anfang wie ein langsames Gleiten in eine Höhle, wobei sich Erdanziehungskräfte in der Tiefe aufzuheben scheinen und man nicht weiß, ob man vielleicht kopfüber mit Beinen auf der Höhlendecke steht? Warum wirkt die Schwerkraft wie aufgehoben beim Gang in die Tiefe, obwohl die Musik in die Höhe strebt?
Es gibt eine „Schattenwelt der Tonalität“ – nicht esoterisch, sondern hier sehr nüchtern formuliert, durchaus im Sinne der Quantenmechanik. Denn jede Verwirklichung von Sein erzeugt auch ihr Gegenbild, ihre Gegenwelt, mit der jedes Sein untrennbar verbunden ist. Ein kleiner Exkurs in der Zeitachse, die wir „Musikgeschichte“ nennen. Aus dem Nebeneinander von 7 Harmonien auf den 7 Stufen der Tonleiter (bei der Entstehung der „Tonalität“ um 1600) wurde innerhalb von nicht 200 Jahren ein Dominant-bestimmtes System funktioneller Harmonien, in dem eine Stufe, die 5., immer massiver dominierte. Auch die 4.Stufe (die nach unten gespiegelte Quinte, also „Sub“-Dominante) wurde immer stärker in eine Schattenwelt gedrängt oder gleich durch die Doppeldominante ersetzt (in der Klassik, in der die Folge, „DD – D – Tonika“ Standard wird). Nach weiteren 100 Jahren führte das immer perfektere (Leittontechnik R.Wagner) Dominieren der Dominante zum Bruch der Tonalität und in ihr Gegenteil, in die harmonische Anarchie mit dem schön-polaren Namen „Atonalität“.
Die in den Schatten gedrängten Elemente melden sich dann im Halbdunkel der Frühromantik vorsichtig zu Wort, vor allem die stärker werdende Subdominante, und mit ihr – auch als offensiver Angriff auf die Dominante mit ihren sich nach oben, in die Kreuze, türmenden Quinten, der Fall nach unten, in die Schluchten der B-Tonarten und in die Tiefen der Vermollung ( je 3 Bs) bzw. in die Abgründe des Kleinterz-Zirkels (a-moll – c-moll – es-moll – ges-moll – Heses = a-moll), der auch im 3B-Schritt die Tiefen des linksdrehenden Quintenzirkels aufsucht.
Nun, soweit die Fakten historischer Tonalität. Aber diese Fakten sind, auch in einer atonalen Tonsprache, Ladungsträger. Wobei „atonal“ ja, wie formuliert, in einer zwar historisch schlüssigen, aber doch in einer (von dominantischer Überspannung erzeugten) höchst abhängigen Polarität zu „tonal“ steht – ein Anti-Gebilde, das zunächst seine Kraft aus dem erklärten „Tod“ dessen zieht, dessen „A--“ es ist.
Die Harmonik von „Sentimental Journey“ ignoriert historischen Polaritäten Tonalität - Atonalität, nutzt aber die harmonischen Codierungen der „Schattenwelt-Tonalität“, vergleichbar der Harmonik des Blues und teilweise des Jazz (vor allem des Bebop). Das Schwanken der Terzen hat hier zwar andere Ursachen als ihre Unschärfen in den blue notes, aber es ist auch ein Prinzip des Fallens ins Blau-Violett, in einen immer wieder wellenartigen Sog der Vermollung, in die Untiefen der B-Tonarten (C-Dur/c-Moll = 3-facher Quintfall), in das Sub-Sub-Subdominantische.
„Sentimental Journey“ beginnt wie ein charakteristischer Halbton-Fall einer Vermollung. Aber das f-as zu e-as (eigentlich fes-as) ist, da ja der untere Ton der Kleinterz fällt, eigentlich eine Verdurung von f-moll (4 Bs) -- zu E-Dur bzw. Fes-Dur (8 Bs), also ein imaginierter Sprung von 4 Bs abwärts).